Kapitel 204 - Zorn und Frieden
Merrhok musste erkennen, dass seine Zermürbungstaktik mit dem breitgebauten Bestigor gewisse Gefahren barg. Die vielen Schnitte hatten seinen Gegner bisher nur unwesentlich geschwächt, im Gegenzug genügte allerdings ein einziger glücklicher Streich mit der Zweihandaxt und er selbst wäre Geschichte. Je länger er sich auf dieses riskante Spiel einließ, desto größer wurde die Chance, dass es ihm schließlich zum Verhängnis werden könnte. Als er den Bronzehuf heulen hörte, war seine Entscheidung gefallen das Unvermeidliche nicht länger hinauszuzögern und kurzen Prozess zu machen. Selbstverständlich lag auch darin Gefahr, aber er musste im Moment einfach darauf vertrauen, dass die Dunklen Mächte seine Klingen führen würden. Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des stummen Gors als ihm bewusstwurde, dass seine Artgenossen die Nähe zu ihren Eltern und Erschaffern immer nur in der Stunde der Not zu suchen pflegten. Dann – und nur dann – betrachteten sie sie als ihre Götter, welche die Macht hätten ihre Schicksale zu lenken. Das Lächeln erstarb augenblicklich als ihm klarwurde, dass er selbst sich gerade eben zu solchen Torheiten hinreißen ließ und somit am Ende wohl keinen Deut besser war als jeder andere seiner Art. Wut war die Antwort, welche Merrhok sich selbst auf diese Gedanken gab. Wut gegen sich selbst und gegen die Dunklen Mächte, weil sie Jenen Schutz und Beistand versprachen, die sich unter ihr Joch begaben, ihre Macht mehrten und ihr Verlangen nährten.
Seine nächste Parade nutzte der stumme Häuptling nicht mehr um dem Axtschwinger und seinem Schatten aus dem Weg zu gehen, sondern diesmal suchte er die unmittelbare Nähe. Dabei stach er mit der Klinge, in seiner Rechten, durch die Öffnung des Kettenhemdärmels hindurch, in die Achselhöhle des Bestigors hinein. Der Getroffene ließ mit einer Hand von seinem Beil ab und krümmte sich vor Schmerzen. So schnell wie er zugestochen hatte, war Merrhok auch schon wieder zurückgesprungen. Seine Klinge hatte er mit sich genommen. Ächzend und noch immer unter Qualen gebeugt, taumelte der Bestigor zurück. Durch den Stoff, die Kettenglieder und am Rande seines ledernen Überwurfs trat das helle Rot seines warmen Blutes hervor. Als er gegen seinen Kameraden – den mit zwei Handbeilen bewaffneten Zögerer – stieß, ging er schließlich zu Boden. Merrhok fixierte sofort die neuerliche Gefahr und versuchte einzuschätzen, worauf er sich gefasst machen müsste. Dann beschloss er seinen Gegner zu testen.
Morghur, der Schädelmeister, war hin- und hergerissen zwischen all den Dingen, die um seine Aufmerksamkeit rangen. Zum einen fanden unmittelbar vor ihm die blutigsten Zweikämpfe seit langem statt, zum anderen näherten sich ihm stetig diese zwei Störenfriede, welche sich an seinen Winden der Magie bedienten und ihn darin störten, die Dinge um sich herum nach seinem Bilde umzugestalten. Ärger machte sich in dem uralten Wesen breit, andererseits hatte das Ganze aber auch etwas von einem aufregenden Spiel und er hatte sich schon seit langem nicht mehr so lebendig gefühlt wie hier und jetzt, von Angesicht zu Angesicht mit dem Tode und der unmittelbaren Gefahr. Wie ein unsichtbarer Magnet zog ihn dieser blutende, in Bronze gekleidete Behufte an und er konnte – nein, wollte – nicht widerstehen. So streckte er seine Klaue nach Ghorhok aus, als könne er ihn bereits berühren, wenn er nur wollte. Es war nicht möglich zu sagen was ihn so an dem Bronzehuf faszinierte, aber es war etwas Aufregendes, Verheißungsvolles. Ein bisher nie dagewesenes Verlangen hatte sich des Uralten bemächtigt und seine unstillbare Neugier nach dem Unbekannten wollte um jeden nur erdenklichen Preis befriedigt werden.
Als Whargor durch den roten Schleier von Blut und Tränen in seinen Augen erkannte, wie dieses im stetigen Wandel befindliche Monstrum an seinen Herrn heranwalzte, gefror ihm der Lebenssaft in den Adern. Ghorhok stand mit dem Rücken zu dem Schädelmeister und ließ seinen Blick, in fast apathischer Bewegungslosigkeit, über die Kämpfe auf der Lichtung vor und unter sich schweifen. Die eigenen Schmerzen und die durch den Blutverlust bedingte Übelkeit ignorierend, schleppte Whargor sich in Richtung des Bronzehufs, bereit das Leben seines Meisters gegen alles und jeden zu verteidigen, auch wenn er dafür seinem schlimmsten Alptraum gegenübertreten müsste. Früher einmal, hätte ihn ein solcher Gedanke zögern oder erstarren lassen. Aber hier und heute war er erfüllt von einem unerklärlichen Gefühl der Sehnsucht und Hingabe, wie sie nie zuvor Teil seiner Persönlichkeit gewesen waren. Er wusste, dass er heute sterben würde. Ihm war noch nicht genau klar auf welche Weise es geschehen sollte, aber er hatte seinen Frieden damit gemacht.