Ich habe auf meinem YouTube-Kanal begonnen, einen Roman als Hörbuch zu veröffentlichen. Viel Spaß damit!
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Neues Benutzerkonto erstellenIch habe auf meinem YouTube-Kanal begonnen, einen Roman als Hörbuch zu veröffentlichen. Viel Spaß damit!
Der nächste Teil ist online:
Wer Ähnlichkeiten mit einer hier schon einmal veröffentlichten Kurzgeschichte entdeckt, hat gut aufgepasst. So entwickeln sich Gedanken und Geschichten weiter.
Ich kann hier ja auch mal den Text teilen. Nicht jeder will schließlich Sachen vorgelesen kriegen. YouTube bekommt dann immer einen kleinen Vorsprung, damit mein Kanal nicht ganz ausstirbt.
Zitat von Kapitel 1 - BartoschAlles anzeigenEin tiefes, melodisches Summen, nur ab und an gestört von einer einfachen Holzpfeife, welche sich genüsslich zwischen die Lippen schob, erfüllte den sonnigen, taufrischen Frühlingstag. Einige Singvögel vom nahen Waldrand legten aufgeregtes Trällern über das Liedchen, begleitet vom steten, gemächlichen Klappern der Pferdehufe. Bartosch Myrtillebranche saß auf dem Kutschbock seines Karrens, das linke Bein gemütlich von sich gestreckt, in einer Hand die Zügel, in der anderen die Pfeife. Der leckere Geschmack von deftiger Blutwurst und Brombeermost lag ihm noch vom Frühstück auf der Zunge und vermischte sich mit dem Raucharoma des Pfeifenkrauts. Seinen alten Schlapphut hatte er neben sich gelegt und nun strahlte ihm die Sonne wärmend in das von einem dichten grauen Vollbart gezierte Gesicht.
Vor den Karren gespannt trottete sein zotteliges Pony Dorinde. Es kaute genüsslich auf ein wenig Hafer, der ihm noch seitlich zum Mund heraushing. Der Pfad hier im equitanischen Hinterland war hügelig, aber sanft. Er bereitete dem kräftigen Pony trotz des vollgepackten Wagens und des beleibten Zwergs keine Mühen.
Zur Linken plätscherte ein kleiner Bach, kaum breiter als einen Schritt, der sich seinen Pfad durch die Hügeltäler bahnte. Die Schneeschmelze war noch nicht lange her und so führte der Bach viel Wasser, das wild durch sein Bett rauschte. Ein wenig voraus konnte Bartosch eine kleine, wenige Fuß große Insel erkennen. Auf dieser erhob sich ein hölzerner Schrank, die Flügeltüren geöffnet. Grobe Schnitzereien verzierten das Holz und auf dem Schrank thronte eine hölzerne Statue eines Kelchs. Ein Schrein. Die Menschen dieser Länder beteten zur Herrin, der sie zahllose Beinamen zu geben pflegten. Die Königin der Kelche – das war einer dieser Namen. Für Bartosch war sie eine fremde, unnachvollziehbare Gottheit, doch er wusste, dass die Menschen manchmal für Jahre heilige Questen auf der Suche nach dem Segen dieser Herrin auf sich nahmen. Wenn sich die Herrin ihrer schließlich annahm, so reichte sie ihnen von ihrem eigenen Wein und, wer aus ihren Pokal trank, wurde – so wollten es die Legenden – ein anderes, ein heiliges Wesen, halb sterblich, halb göttlich.
Vor dem Schrein kniete betend ein alter Mann. Er hatte Blumen niedergelegt, einfache Schneeglöckchen und Ackergoldstern. Sein weißes Haar fiel ihm schütter bis auf die Schultern. Der Körper verriet indes noch immer die Kraft eines hart arbeitenden Mannes. Er erhob sich just, als Bartosch und Dorinde sich ihm näherten.
„Einen friedlichen Morgen, mein Junge!“ Bartosch hob den neben ihm liegenden Hut zu einem Gruße über den Kopf. Ob der Anrede blickte der alte Mann sichtlich irritiert auf den dicklichen Zwerg.
„Die Herrin mit euch, Herr Zwerg“, entgegnete er. „Ihr seid früh unterwegs.“
„Nicht früher als du, Kindchen. Bei allen Schlemmereien“, Bartosch wedelte genüsslich mit seiner Pfeife, „ein frischer Morgen ist noch immer der beste Beginn des Tages. Man fühlt sich jünger, lebendiger, nicht wahr?“
Der Mann zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Hab es nie anders gekannt. Und nun komme ich jeden Morgen vor der Arbeit hierher, um für meine verstorbene Frau zu beten. Die Herrin habe sie selig.“
„Das tut mir leid, mein Junge.“ Ein tiefer Schatten legte sich auf das freundliche Gesicht des Zwergs. „Wirklich sehr leid. Ich hoffe, eure Herrin behütet sie wohl.“
Der Mann nickte freundlich und verständnisvoll und dennoch entstand ein Moment peinlichen Schweigens.
„Wie wäre es mit einer kleinen Pause und einem Becher Brombeermost?“ Bartosch deutete einladend auf eine hölzerne Flasche, die neben ihm an einem Nagel auf dem Kutschbock hing.
„Habt Dank, Herr, aber mein Hof führt sich nicht von allein. Ich mache mich besser auf den Rückweg.“ Der alte Mann sprang von der Insel über den Bach herüber und schickte sich zu gehen an.
„Dann Frieden und Gesundheit mit dir, mein Junge!“ Freundlich nickte Bartosch dem Mann noch einmal zu. „Ach, sag doch: Wie weit ist es noch nach Chateuilly?“
„Ihr kehrt in Chateuilly ein?“ Der Mann wand sich noch einmal zu Bartosch um. „Meine Enkelin arbeitet dort. Laureline. Sie ist Köchin am Hof des Barons. Bestellt ihr meine Liebe… von Garou!“
Er wandte sich ab und wollte schon losgehen, als er sich der Frage erinnerte. Kurz bevor Garou in den Wald entschwand, drehte er sich daher noch einmal um: „Chateuilly ist nicht weit. Einen halben Tagesritt mit eurer Kutsche – höchstens. Lebt wohl und die Herrin mit euch!“
Bartosch ließ seinen Karren noch kurz stehen und sah Garou nach. Sein Blick wanderte über den hölzernen Schrein und die liebevoll gepflückten kleinen Blumen. Er gönnte sich einen schweren Zug aus der Pfeife, bevor er Dorinde erneut antrieb. Ein Anflug von Trübsinn legte sich auf sein Gemüt. Jeden Tag, jeden Morgen brachte Garou seiner Frau Blumen. Wie lange mochte es wohl her sein, dass sie von ihm gegangen war? Langsam und nachdenklich atmete Bartosch den Rauch aus.
Es war ein guter, ein freundlicher Morgen – und doch blieb da dieses unersättliche Loch tief in seiner Brust, das weder die Sonne noch die grünen Hügel oder ein gutes Essen, weder Pfeifenkraut noch Most jemals füllen können würden. Seit mehr als drei Monaten war er unterwegs, hatte alles, was er einst Heimat nannte, zurückgelassen. In vielerlei Hinsicht hatte ihm dieser Wechsel gut getan. Er fühlte sich freier und lebendiger. Doch dieses Gewicht, das ihm tief auf der Kehle saß, das auf seine Brust drückte und das ihn eine stete Übelkeit empfinden ließ, war noch immer da. Drei Monate waren nicht annähernd genug Zeit, um diese Wunde, diesen Verlust, zu heilen.
„Ach meine Kleine“, murmelte er Dorinde zu, als sie den Hügelkamm fast erreicht hatten, „ich bin verdammt froh, dich…“
Er stockte. Angespannt zog er sein ausgestrecktes Bein zurück und mit einem kurzen Ziehen am Zügel kam der Karren zum Stillstand. Mehr um dem eigenen Schrecken Ausdruck zu verleihen, als dass es wirklich nötig gewesen wäre, kniff Bartosch angestrengt die Augen zusammen. Rauchschwaden!
Dorinde hatte den Karren in einer weiten Rechtskurve auf der Straße um den Wald herum und auf einen Hügel geführt, und nun erstreckte sich der Blick gen Norden weit über die Landschaft, und dort hinter den Hügeln stiegen drei große schwarze Rauchsäulen auf.
„Ein Waldbrand?“, schoss es Bartosch durch den Kopf. Nein, dafür war es zu feucht. Tau benetzte noch die Blätter und Gräser am Wegesrand. Zudem, so stellte er sich vor, wäre ein Waldbrand größer und zusammenhängender.
Chateuilly! Der Gedanke fuhr ihm wie eine frostige Windböe in die Knochen.
Unschlüssig verharrte er auf dem Karren. Vielleicht sollte er lieber kehrtmachen. Ein brennendes Dorf, vielleicht sogar eine brennende Burg – das konnte nichts Gutes verheißen. Er könnte umdrehen und dem Fluss abwärts nach Guenac folgen. Sehnsüchtig blickte er zurück, die Straße entlang. Am Fuße des Hügels fand sein Blick den Bach und den kleinen Schrein der Herrin. Beinahe konnte er die Blumen noch ausmachen. Ob Garou nun auch noch seine Enkelin verloren hatte? Der Gedanke schmerzte ihn und der Pfropf in seinem Hals wuchs, schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Vergeblich rang er nach Luft. Ihm wurde schwindelig und schwarz vor Augen.
Als Bartosch wieder zu sich kam, spürte er die feuchte, kalte Schnauze Dorindes, die ihm durch das Gesicht schlabberte. Der bittere Geschmack von erbrochenem Brombeermost und Blutwurst füllte seinen Mund. Er lag auf dem Weg, war offenbar vom Wagen gestürzt. Er fühlte sich kraftlos, wollte keinen weiteren Tod sehen. Er konnte nicht. Noch nicht.
Doch umkehren konnte er auch nicht. Er musste wissen, was mit Chateuilly geschehen war. Er musste wissen, ob die Menschen dort in Ordnung waren. Er musste wissen, ob Laureline am Leben war. Kraftlos zog er sich zurück auf den Kutschbock seines kleinen Karrens und fuhr los.
Zitat von Kapitel 2 – YlianeAlles anzeigenDer Wind riss an ihrer Robe, während Yliane eilig über einige große, zerborstene Steine sprang. Die Burgmauer hatte nachgegeben und war in den Hof gestürzt. Aus den Augenwinkeln sah Yliane das zerschmetterte Bein eines Hundes unter den Steinen hervorragen. Das braune, zottelige Fell war von Blut verklebt. Etwas in ihr regte sich, wollte Mitleid fühlen. Doch ihr Herz war voll. Da war kein Platz mehr, kein Raum für noch mehr Leid.
Der beißende Geruch des Feuers drang in ihre Nase. Noch immer kämpften die Dörfler gegen die Flammen, welche die Stallungen und den Bergfried in ein Inferno verwandelt hatten. Sie sah Bernard, den örtlichen Schmied, unermüdlich Wasser aus dem Brunnen ziehen, sah die Frauen des Dorfes die Eimer zu den Häusern tragen und ihre Männer, die verzweifelt versuchten, Brandherd um Brandherd einzudämmen.
„Damoiselle, nicht…!“ Yliane hatte das Tor des Bergfrieds aufgestoßen. Unerträgliche Hitze drang ihr entgegen. Rauch stieg beißend in ihre Nase und Lungen. Hastig drückte sie sich ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase und blies die Warnungen der Umstehenden in den Wind. Sie eilte in den kreisrunden Bergfried, geradewegs auf die hölzerne Treppe zu und stürmte nach oben. Sie musste ihr Zimmer erreichen.
Flammen konnte sie noch keine sehen, doch der Rauch war allgegenwärtig. Sie konnte sich kaum orientieren und das Tuch vor ihrem Gesicht begann in der Hitze bereits seine Nässe zu verlieren. Es roch schon nach verbranntem Holz, beinahe wie beim großen Lagerfeuer, mit dem die Equitanier alljährlich an den Iden des Feburar den Winter und das Schneekind vertrieben. Rauch drang in ihren Mund und sie verschluckte sich. Sie hustete wild, schnappte nach Luft.
„Du Närrin!“, dachte sie, als ein stechender Schmerz ihre Lungen durchzuckte. „Nicht atmen, erst recht nicht tief und durch den Mund.“
Sie stürmte die Wendeltreppe hoch. Doch jeder Schritt wurde schwerer, der Schmerz in ihren Lungen wuchs, ihre Sicht schwand zunehmend. Anfangs dachte sie, dies läge am dichten Rauch, doch das war nur die halbe Wahrheit. Ihre Augen versagten ihr den Dienst. Sie hatten keine Kraft mehr.
Mit Mühe öffnete sie ihre Zimmertüre. Flammen schlugen ihr entgegen. Das Gestell ihres Himmelbetts, die Vorhänge – alles brannte lichterloh. Yliane schloss die Augen, konzentrierte sich und sammelte ihre Kraft. Sie spürte die Liebe der Herrin durch sich fließen, ertastete jenes feine Band, das sie mit allen lebenden Dingen verband und das sich bis zu dem Schleier wob, der hoch im Himmel die Welt der Sterblichen von der Welt der Unsterblichen und der Magie trennte. Windstille kehrte ein. Die Flammen zogen sich für einen Augenblick zurück. Ihr Zischen und Fauchen wurde leiser, kaum mehr als ein Wispern.
In Gedanken dankte Yliane der Herrin für ihren Segen und diese Kraft. Dann hastete sie zu dem kleinen aufwändig mit Schnitzereien dekorierten Schrank an der Kopfseite ihres Zimmers. Zum Glück war er bisher von den Flammen verschont geblieben. Sie öffnete die Schubladen und griff eilig ihre Bücher und den großen ledernen Beutel mit Kräutern.
Ohne Atempause rannte sie wieder los. Als sie ihr Zimmer verließ, barst hinter ihr die Decke. Balken stürzten nieder und zertrümmerten den Schrank, an dem sie soeben noch gestanden hatte. Sie stürmte die Treppe hinab. Die Flammen hatten nun auch das Erdgeschoss erreicht und schlugen ihr entgegen. Sie waren überall. Rauch nahm ihr die Sicht und drang unerbittlich in ihre Lunge ein. Es war, als wolle sich das Feuer für ihre Magie, für ihren Angriff auf sein Toben rächen.
Sie erreichte das Ende der Treppe und sah sich hastig um. Ein Schmerz durchzuckte ihr Bein, als sie die letzte Stufe verfehlte. Der Fuß schlug um und entrang ihr einen schmerzverzerrten Schrei. Bäuchlings landete sie auf der Erde. Ihr Kopf schlug hart auf dem steinernen Boden auf. Ihre Bücher und der große Lederbeutel mit den Kräutern flogen durch den Raum und der bitter-süße Geschmack frischen Bluts erfüllte ihren Mund.
Doch sie durfte nicht aufgeben. Zu viel hing von ihr ab. Mühsam robbte sie vorwärts. Über ihr züngelte und tobte das Flammenmeer. Sie konnte die Türe sehen. Aber wo war ihr Beutel? Wo waren die Bücher? Panisch blickte sie sich um. Der Beutel lag nicht weit entfernt. Sie ergriff ihn. Über ihr knarzten die Deckenbalken bedrohlich. Sie musste hier raus.
Sie robbte weiter Richtung Türe, erreichte diese mit Müh und Not. Starke Arme halfen ihr auf die Beine und zogen sie vom Bergfried weg. Sie konnte nichts mehr machen. Die Welt um sie herum passierte einfach. Schwindel überkam sie und ihre Beine versagten ihr den Dienst. Dann hörte sie hinter sich ein lautes Krachen, als die Decke des Bergfrieds einstürzte und ihre Bücher unter sich und im Flammeninferno begrub.
Als sie erwachte, lag sie im notdürftig eingerichteten Krankensaal. Es stank nach Verwesung und von überall hörte sie das Stöhnen und Jammern der Verletzten. Vorsichtig hob sie ihren Kopf und blickte sich um. Es war Nacht. Nur einige schwach flackernde Kerzen erleuchteten den Raum, in dem Joselyn und einige Helfer den am schwersten Verwundeten Linderung verschafften. Mit Erleichterung sah Yliane, dass Joselyn den großen Lederbeutel voller Heilkräuter bei sich trug.
Sie richtete sich auf. Ihre Wunden waren verheilt, als wären sie niemals dort gewesen. Zwar fühlte sie sich noch etwas schwach, doch auch das würde bald verfliegen. Die Herrin segnete ihre Damen, ihre Priesterinnen, auf wundersame Weise.
Yliane erhob sich und bahnte sich einen Weg an all den Bettstätten der Verletzten vorbei zu Joselyn. Die Priesterin hielt den Rücken vom hohen Alter gebeugt. Ihr graues, beinahe weißes Haar hatte sie offenbar eilig zum Pferdeschwanz gebunden und die hellgrüne Robe, normalerweise ein Symbol ihrer Würde, war von Blut und Dreck überzogen. Der strenge Geruch getrockneten Schweißes ging von ihr aus, auch wenn er unter dem Übelkeit erregenden Gestank der Verwesung und des Todes, welcher den Krankensaal erfüllte, beinahe in Vergessenheit geriet. Joselyn strahlte eine merkwürdige Verbindung von Haltung, Kraft und völliger Erschöpfung aus.
Seit Yliane ihre Ausbildung zur Dame der Herrin vor etwas weniger als einem Jahr beendet hatte und aus der Schola an den väterlichen Hof zurückgekehrt war, hatte sie der alten Priesterin so gut wie möglich unter die Arme gegriffen. Sie hatte sich nach allen Kräften bemüht, das Tagewerk der Greisin zu erlernen, bevor diese von der Beldame abgeholt und zum ewigen Hofe der Herrin geführt würde. In den vergangenen Wochen hatte sie mehrfach erwartet, dass dieser Augenblick nahe sei. Joselyn war gealtert. Sie wirkte schwach. Ihre einst gutmütigen, aber strengen Gesichtszüge waren eingefallen. Ihr Verstand hatte sich bereits auf die Suche nach der Beldame begeben und ihre einstige Weisheit hatte sich in den Geist eines Kindes zurückverwandelt.
Doch die Herrin mutet den Menschen nicht mehr zu, als sie leisten können. Sie testet die Menschen, gibt ihnen Aufgaben, um ihre Würdigkeit zu fördern und zu bemessen, um sie zu wahrhafter Größe zu führen und jene zu belohnen, die mehr als alle anderen die Tugend über den Selbstnutz stellen. Doch sie verlangt nicht mehr, als die Menschen, wenn sie denn nur redlich wollen, hergeben können, und so hatte sie Joselyn in dieser Stunde der Not genug ihres Verstandes gelassen, um diesen letzten Dienst an den Menschen von Chateuilly zu vollbringen.
Die alte Priesterin strich gerade eine Paste aus zerriebenem Beinwell auf den verwundeten und gebrochenen Arm eines schmalen rothaarigen Bauernjungen, der kaum zwölf Winter erlebt hatte, doch offenbar im Kampf verwundet wurde. Yliane hätte erwartet, dass sie Furcht, Verzweiflung oder Trauer in seinen Augen finden würde, aber da war nur Leere. Eine tiefe starrende Leere, die sich über seine Gefühle gelegt hatte, um die Schrecken der vergangenen Nacht überstehen zu können.
Als sie herangetreten war, drehte sich Joselyn zu ihr um. Ein liebevolles Lächeln legte sich auf die Lippen der alten Prophetin. Doch im nächsten Augenblick machte es dem Yliane bereits allzu bekannten Schock Platz, wenn Joselyns Geist bemerkte, dass er nicht mehr zuordnen konnte, was ihre Gefühle längst erkannt hatten. Irgendetwas in ihr wusste noch, wer Yliane war, jedenfalls was sie für sie empfand, doch dieses etwas reichte nicht mehr von ihrem Herzen in ihren Kopf.
„Joselyn“, sprach Yliane mit sanfter Stimme, „Ich bin es, Yliane, deine Schülerin.“
„Natürlich, Yliane! Das weiß ich doch.“ Joselyn winkte etwas zu eifrig ab, als dass man ihren Worten hätte Glauben schenken können. „Wo bist du nur gewesen, mein Kind?“
„Ich war verwundet. Du hast mich gepfle…“ Yliane beendete den Satz nicht, sondern strich der Greisin liebevoll mit der Hand über die Wange. „Nun bin ich da und kann für dich übernehmen. Du brauchst Ruhe.“
Joselyns Augenbrauen verdichteten sich und ihre kleinen trüben Augen waren auf einmal von seltener Klarheit erfüllt.
„Ach, mein Kind, wir wissen beide, dass mich schon bald eine längere und endgültigere Ruhe erwartet. Diese letzten Stunden werde ich nicht liegend verbringen, anstatt den Menschen in Not zu helfen. Es ist eine große Ehre, wenn ein Ritter auf dem Schlachtfeld für die Herrin und die Menschen dieser Lande stirbt. Aber wir Damen dienen auf andere Weise – ich werde gehen, wie ich gelebt und gedient habe, auf meinem Schlachtfeld.“ Ein verschmitztes, tiefgründiges Lächeln legte sich auf die runzeligen Lippen. Dann wendete sich Joselyn wieder einem Patienten zu und deutete Yliane mit ihrem Finger in eine andere Richtung des Raumes. „Dort hinten liegen jene, für die meine Kräfte nicht mehr reichen. Aber vielleicht kannst du ihnen mit der Macht der Herrin helfen.“
Yliane war voller Tatendrang. Sie würde Joselyn nacheifern, eine wahre Dienerin der Herrin, aufopferungsvoll bis in den Tod. Sie wollte bereits los eilen, doch in diesem Augenblick öffnete sich das große Portal aus schwerem Eichenholz und Érec betrat den Raum. Sie hatte ihren Bruder nach den Kämpfen noch nicht gesehen, war in ständiger Furcht gewesen, dass er gefallen wäre. Doch da stand er. Großgewachsen, das schulterlange dunkle Haar von den Wirrnissen der vergangenen Stunden zerzaust, aber so strahlend und schön wie immer. Sein markantes, glattrasiertes Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht, doch als er sie sah, hellte auch sein Blick sich auf.
„Schwesterchen!“ Yliane und Érec fielen einander in die Arme. Er hob sie mit Leichtigkeit in die Luft und drehte sich einmal im Kreis, dann umarmten sie sich innig. Erleichtert stellte Yliane fest, dass er keine Wunden hatte. Érec war ein formidabler Kämpfer, soweit sie das einschätzen konnte. Schon in ihrer Kindheit hatte er sie vor allen anderen Kindern verteidigt und es selbst mit nicht mehr als einem kleinen Stock gegen ein Holzschwert aufgenommen.
Nachdem Érec Yliane wieder abgesetzt hatte, trat auch Joselyn hinzu. Sie tätschelte dem Ritter, der sie wegen ihres gebeugten Rückens um gute zwei Köpfe überragte, die Wange.
„Ach er!“ Joselyn blickte Érec dankbar und liebevoll an. Sie wiegte den Kopf hin und her, wollte offenbar etwas sagen. Yliane vermutete, dass ihr der Name entfallen war.
„Ach er!“, wiederholte Joselyn und lächelte. „Niemand hat mir heute so viel und so unermüdlich geholfen.“ Erneut tätschelte sie seine Wange.
„Bist du wohlauf, Schwesterchen?“ Érec hielt nach wie vor eine seiner großen starken Hände auf Ylianes Schultern. Sie hatte beinahe vergessen, wie gut es tat, Halt in einem anderen Menschen und nicht nur in sich selbst – und selbstverständlich in der Herrin – zu haben.
„Mir geht es gut. Ich bin so froh, dass du die Kämpfe gut überstanden hast, Érec. Was ist geschehen?“
Super Teil aber meine Kinder dürfen nicht mit hören.
Super Teil aber meine Kinder dürfen nicht mit hören.
Ja, das kann ich mir vorstellen. Da du als erfahrenerer Vater das viel besser beurteilen kannst, würdest du eine Art Warnung vorab begrüßen für solche Video, wo es auch mal brutaler sein kann?
Danke jedenfalls für das Feedback! Das tut echt gut und motiviert.
Und hier dann mit leichter FSK-Warnung zum Nachlesen:
Zitat von Kapitel 3 - ÉrecAlles anzeigenDie ersten Strahlen der aufgehenden Sonne färbten das Dorf rot. Sie brachen sich an den nahen Hügeln und legten einen willkommenen Schleier der Unwirklichkeit über die Ebene. Die toten Körper wirkten im roten Licht beinahe anmutig – eher wie Heroen eines Epos, das ein Barde am Lagerfeuer erzählt, als wie die leblosen Hüllen tapferer Kampfgefährten. Mit diesem warmen, roten Licht sandte die Herrin einen Augenblick der Gnade. Einen kurzen Augenblick.
Als die Himmelsscheibe jedoch ihren Weg über die Hügel fortsetzte, entriss sie der Welt jede Gnade und offenbarte die Schrecken der vergangenen Nacht. Die rote Farbe, welche Chateuilly noch immer einhüllte, war nun das Dunkelrot vergossenen Blutes und der flackernde Schein der brennenden Gebäude. Zahllose tote Körper lagen brutal abgeschlachtet auf dem zertrampelten Erdboden. Abgetrennte Gliedmaßen, schreckgeweitete Gesichter und der Geruch von Fäkalien, die im Moment des Todes auch den tapfersten Ritter jedweder Würde beraubten.
Vereinzelt war das Stöhnen verletzter und sterbender Waffenbrüder zu hören. Es drang gedämpft, wie aus weiter Ferne an Érecs Ohr. Und doch war eines von ihnen ganz nah hinter ihm. Er erkannte in dem schmerzverzerrten Ächzen die Stimme Godefrois, seines langjährigen Freundes und Weggefährten. Aus der gleichen Ferne hinter sich hörte Érec das Stampfen schwerer Hufe und ein tiefes, beinahe genüssliches Schnauben. Er wollte sich erheben, sich umdrehen, dem Grauen ein Ende bereiten. Stattdessen erfüllten Tränen seine Augen und er starrte bewegungslos auf das Antlitz der toten Frau vor ihm im Dreck. Er hatte ihren Todeskampf mit angesehen. Hatte gesehen, wie sie verzweifelt versucht hatte, ihre Tochter vor den Bestien zu schützen, sie ihnen wieder zu entreißen. Érec hörte ein kurzes Stoßen von Metall auf Metall, ein Gurgeln, dann verstummte Godefrois Stöhnen. Mit einem genüsslichen Grunzen zog die Bestie weiter, dann war Stille.
Stille herrschte auch in Érecs Kopf. Eine aufgewühlte Stille, eine Stille, die er nicht greifen konnte, die ihn lähmte und die ihm zugleich enteilte und ihm ihr Erbarmen verweigerte. Eine dröhnende Stille, lauter als jeder Schlachtenlärm. Übelkeit machte sich in seinem Körper breit. Sie waren noch immer da. Er konnte ihre Schritte hören, konnte jenes Geräusch hören, das Menschen im Moment des gewaltsamen Todes ausstoßen, jenes Geräusch, für das seine rasenden Gedanken keinen Namen fanden. Er konnte den Kampflärm in der Ferne hören, irgendwo in der Burg, wo sein Vater mit seinen Mannen noch tapfer Widerstand leistete.
Ein Würgereiz durchflutete seinen Körper. Er verkrampfte seine Muskeln. Jedes Geräusch, jede Bewegung würde ihn verraten. Ein bitterer Geschmack füllte seinen Hals und Mund, doch Érec kniff angestrengt die Augen zusammen und hielt den Mund geschlossen. Die Übelkeit bahnte sich beißend ihren Weg durch sein Inneres und er spürte, wie ihm die bittere Flüssigkeit aus der Nase tropfte, während er reglos da lag.
Angewidert von sich selbst öffnete er erneut die Augen. Die Frau vor ihm, eine Bauersfrau, deren Torso von hinten durchbohrt und aufgerissen war, blickte ihn vorwurfsvoll an. Érec wusste, dass sie tot war. Und dennoch konnte er die Anschuldigung in ihren Augen sehen. Warum hilfst du nicht? Warum kämpfst du nicht, wie du es geschworen hast? Warum lässt du deine Freunde und Schutzbefohlenen abschlachten und rührst dich nicht?
Er sah einige der siegreichen Bestien, jene gewaltigen Minotauren, die unter seinesgleichen gewütet hatten, sich an den leblosen Körpern der Equitanier laben. Warum kämpfst du nicht? Andere schleppten Gefangene zum nahen Wald. Er wollte sich lieber gar nicht ausmalen, in was für einem Festgelage sich diese Bestien an den Körpern vergehen würden. Warum stirbst du nicht, wie es einem Ritter von Equitaine gebührt?
Unweit sah er einen kleinen Ziegenmenschen, der sich zum Vergnügen seiner Kameraden über einen Ritter stellte, sich seine lumpenartige Hose lockerte und in den geöffneten Mund des Verstorbenen pisste. Das von Schlamm benetzte Wappen des Recken zeigte die strahlende Gralsreliquie auf dem Rücken eines Drachen. Sir Guy de Vareille, auserwählter Streiter der Herrin, Ikone der Ritterlichkeit, ein Mann, über dessen Taten Heldenlieder geschrieben wurden, entehrt von geistlosen, wilden Bestien aus den unzähmbaren Wäldern. Was hätte er getan, wenn er hier gelegen hätte? Das Gesicht der Frau kannte die Antwort. Er hätte gekämpft, er hätte seine Waffenbrüder verteidigt und wäre ehrenvoll vor die Herrin getreten. Érec hingegen rührte sich nicht.
Als die Bestien abgezogen waren, wehte ein seichter Wind über das Schlachtfeld. Langsam löste er die Lähmung, die Érecs Gedanken gefangen hielt. Die Tränen waren in seinen Augenwinkeln getrocknet, die Bitterkeit in seinem Mund suchte nicht länger einen Weg aus seinem Körper. Sie hatte sich – ebenso wie die Tränen – in ihm eingenistet, und er wusste, dass sie ein Teil seines Wesens werden würde. Wohin auch immer er sich wenden würde, er würde einen galligen Geschmack im Mund verspüren, der ihn an diese Nacht erinnerte.
Mühsam stützte Érec sich auf die Ellenbogen und drückte seinen Körper nach oben. Ein Schwindelgefühl überkam ihn und er musste für einige Herzschläge die salzig ausgetrockneten Augen schließen. Dann drehte er sich im Schlamm und kroch voran, vorbei an der toten Bauersfrau, über zahllose Leichen von Knappen, Rittern und ihrer Bauernwehr. Er wusste nicht recht warum, doch schleppte er seinen müden Körper zum entstellten Leichnam Sir Guys. Der Anblick des geschundenen Edelmannes versetzt ihm einen Stich ins Herz. Mit einem pochenden Schmerz im Kopf, der alle Gedanken übertönte, drehte er den Ritter auf die Seite. Er hoffte, alle Erniedrigung würde ihm aus dem Mund laufen, doch der Mund des Mannes war trocken. Érec war zu spät, um die Würde des Toten zu retten.
Er wollte die Herrin anzurufen. Doch Worte fand er keine. Sie hatte am vergangenen Tag selbst ihre auserwähltesten Streiter nicht beschützt. Wie konnte er glauben, dass sie ihm ihr Gehör und ihre Hilfe schenken würde? Doch da war noch etwas anderes, das Érec zögern ließ: Die Ritter von Equitaine stritten seit Ewigkeiten, seit den großen Rattenkriegen und den Tagen König Uthers für die Herrin. Ihr zum Gefallen waren die größten Heldentaten vollbracht worden. König Henry Löwenhelm, Sir Renard de Tallebert, Lotrec du Moreau – alle Helden vergangener Zeiten hatten die Gunst der Herrin erworben. Er jedoch, Sir Érec de Chateuilly, war keiner von ihnen. Er hatte Schande über sich und seine Familie gebracht. Furchtlosigkeit hatte er geschworen und den Schutz der Hilflosen. Doch in der vergangenen Nacht hatte er starr vor Angst zugesehen, wie selbst seine Freunde, Vorbilder und Schutzbefohlenen entehrt und abgeschlachtet wurden. Wie konnte er zur Herrin sprechen? Mehr noch: Der Gedanke, dass die Herrin ihn bisher vielleicht nicht beachtet hatte, schenkte ihm das letzte bisschen Trost, das ihm blieb. Wenn er betete, würde sie ihren Blick auf ihn richten, und sie würde seine Schande und Schmach erkennen.
Érec erhob sich aus dem blutigen Schlamm des Schlachtfeldes. Stehend konnte er das Ausmaß des Massakers besser überblicken. Das Dorf war wie ausgerottet. Überall lagen Leichen. Die meisten menschlich, viele jedoch auch Ziegenmenschen, Minotauren und andere Verderbtheiten. In einiger Entfernung lag eine gigantische gehörnte Bestie im Dreck, größer als vier ausgewachsene Männer, dutzende Krieger unter sich begraben. Érec erinnerte sich daran, wie dieses Monstrum Angriff um Angriff der tapferen Ritter abgewehrt hatte, bis schließlich eine Lanze ihren Weg durch die dicke Haut einen guten Meter tief in das Herz des Ungetüms fand.
Dann fiel sein Blick auf Pélerin. Sein treues Ross lag blutüberströmt unter dem Leichnam eines Minotaurus. Eine lange Axt hatte dem Pferd den Wanst aufgerissen. Sie lag vor ihm im Dreck, Teile der Eingeweide um Blatt und Stiel gewickelt. Érec erinnerte sich an den Tod des letzten Schlachtrosses seiner Mutter. Er war jung gewesen, doch der friedliche Blick des toten Tieres hatten ihn als Kind stets mit Wärme erfüllt; wenn dies der Tod war, so brauchte man ihn nicht zu fürchten. Pélerins Augen jedoch waren erfüllt von Panik und Schmerz. Érec stürzte. Seine Beine verweigerten ihm die Kraft, sein Geist ebenso. Tränen übermannten ihn. Schließlich vernahm er Fanfaren und Hufgetrappel von der Burg her.
„Was ist geschehen?“ Tief in seinem Kopf hörte Érec noch den Widerhall der Frage seiner Schwester. Seine Gedanken waren abgeschweift. Nun antwortet der bullige Hüne, der soeben durch die Türe des Krankensaals trat, an seiner Statt und riss Érec so aus seinen Erinnerungen. Baron Seymour de Chateuilly, Ylianes und Érecs Vater, war ein großgewachsener und kräftiger Mann. Das Haar trug er, seit es dünn zu werden begann, kurzgeschoren, während ein prächtiger dunkler Vollbart sein kantiges Gesicht zierte.
„Die Bestienhorden aus dem Gebirge sind wie aus dem Nichts aufgetaucht.“, brummte er mit tiefer, nur mühsam gefasster Stimme. „Wir konnten sie nach langen Kämpfen aus der Burg zurückschlagen, aber sie haben viele Maiden verschleppt. Das Dorf legten sie in Schutt und Asche, doch Érec verteidigte es eines Ritters der Herrin würdig.“ Stolz klopfte der Vater seinem Sohn auf die Schulter. Dieser erwiderte mit einem schwachen Lächeln. Es war eine Seltenheit, dass sein Vater ihn lobte. Für den alten Recken, so schien es Érec häufig, war alles, das weniger als das Ideal der Ritterlichkeit war, nicht genug. Egal, wie sehr man sich bemühte, den Helden der großen Geschichten konnte man nicht ebenbürtig sein. Und dennoch hatte genau das ihn stets angetrieben: einmal so tapfer, nobel und ehrenhaft zu sein wie die heiligen Streiter der Herrin und seinem Vater einen Grund zu geben, stolz zu sein. Es wäre beinahe komisch gewesen, wenn es ihn nicht so abgrundtief beschämte, dass er ausgerechnet heute diesen Stolz erntete.
„Ihr seht zu viel in mir, Vater.“ Érec senkte verlegen den Kopf. Er brachte es nicht über sich, dem falschen Lob des Vaters und all dem unverdienten Ruhm zu widersprechen. So gerne hätte er die Wahrheit erzählt, vielleicht, ganz vielleicht, hätte Vater ja sogar Verständnis gezeigt.
„Nein. Ganz und gar nicht mein Junge. Ich würdige nur meine zwei tapferen Kinder, wenn sie sich Anerkennung verdient haben. Du warst der einzige Krieger, der im Dorf noch stand.“ Er drehte sich Yliane zu und ergänzte: „Um ihn herum die leblosen Körper zahlloser Bestien, darunter viele der gefürchteten Minotauren und ein riesenhaftes Monster.“
Yliane schüttelte sich ein wenig, zog das Gesicht in Falten und legte den Kopf schief, als müsse sie ihre Gedanken sortieren.
„Sie haben Mädchen entführt?“
Mit ernster Miene nickte ihr Vater. „Dutzende – und ich fürchte, sie erwartet ein schlimmes Schicksal. Wir haben nicht die Männer, um ihnen nachzusetzen.“ Erst jetzt fiel Yliane auf, dass sich ihr Vater schwer auf einen Gehstock stützte. Ein Bein und ein Arm waren bandagiert. Tiefe Trauer und Ratlosigkeit lagen in seinem Gesicht. Der alte Bär hatte sich noch nie um einen Kampf gedrückt und unverwundet hätte er den Bestien – ganz den Geboten der Herrin folgend – wohl alleine nachgestellt. Doch nun erfüllten Kraftlosigkeit und Verzweiflung den sonst so aufrechten Körper.
„Dann gehen eben wir, Érec und ich.“, platzte es aus Yliane heraus. „Die Herrin wird über uns wachen. Wir können die Mädchen unmöglich ihrem Schicksal überlassen.“ Sie erblickte Stolz und Sorge in den Augen ihres Vaters.
„Ich kann euch keine Männer mitschicken“, sagte er nachdenklich. „Allerdings sind die Bestien geschwächt und Érec ist ein formidabler Kämpfer, du eine Dame der Herrin. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist das die Queste, welche die Herrin für euch auserkoren hat.“
„Zu zweit?“ Érec hatte seine Lähmung ob der Torheit seiner Schwester überwunden. „Vater, wir bräuchten mehr Kämpfer. Ich kann es nicht mit einem ganzen Stamm aufnehmen.“
„Es gibt keine gesunden Kämpfer mehr hier.“ Seymour legte Érec liebevoll eine Hand auf die Schulter. „Mein Sohn, als junger Mann wäre es mir leichtgefallen, diesem Ruf der Herrin zu folgen, aber glaube mir, als Vater gefällt es mir weit weniger als euch, meine Kinder in solch ungewisses Schicksal ziehen zu lassen. Doch deine Schwester kennt die Wege der Herrin. Dies ist der Pfad, auf den die Herrin euch ruft. Sie hat über euch gewacht, damit ihr nun unversehrt zu großen Taten aufbrechen könnt.“
„…und die Maiden retten“, ergänzte Yliane mit einem leichten Vorwurf in der Stimme. Sie kannte ihren Vater, kannte seinen Hang zu den Legenden der großen Helden, deren Ruhm ihm mehr Anreiz war als das Schicksal der Menschen, welche von diesen Helden gerettet wurden – und sie wusste, ebenso wie Érec, dass ihr Vater keine Widerrede duldete.
Fassungs- und reglos stand Érec da. Selbst die vermeintlichen Heldentaten dieser Nacht waren also nicht genug. Nun schickte sein Vater – sein großer und tapferer Vater, der sich angeblich früher über derlei Himmelfahrtskommandos gefreut hätte – Yliane und ihn um des Ruhmes willen in den sicheren Tod. War dies die Strafe der Herrin für seine Feigheit in der vergangenen Nacht?