Kapitel 83 - Zugzwang
Graktar ließ seinen konzentrierten und angestrengten Blick durch den Raum wandern. Von Toten, hin zu noch immer um ihr Überleben streitenden, bis zum schwer umkämpften Ausgang. Der Ratten-Häuptling war nirgends auszumachen. Während die verbliebenen Gors noch unter den Skaven wüteten, waren viele der völlig in Unordnung geratenen Nager bereits auf der Flucht und strömten aus der Halle in die Tunnel zurück. Gurlak brüllte einigen der Gors Befehle zu, die Flucht der Feinde zu stoppen, aber viele von ihnen waren dem Griff des drohenden Todes bereits entglitten. Sie zu verfolgen schien keinen Sinn zu ergeben und hätte das Risiko für die Tiermenschen nur noch erhöht.
Nachdem Ghorhok alle Nager in seiner Reichweite niedergemacht hatte, wandte er sich an die beiden Großhäuptlinge, um sie umgehend zum Aufbruch zu bewegen. Trotz dieses kleinen Sieges über die Skaven waren viele der Gors im Kampf gefallen. Die schiere Masse an Ratten Kriegern war einfach überwältigend und keiner der Behuften hatte den unendlich langen Atem, sich einer solchen Flut von Leibern und Klingen ewig zu erwehren. Wäre die Moral und die Motivation der Gors nicht so ausgesprochen stark gewesen, hätte sich das Blatt durchaus schnell wenden können. Sie mochten heute zwar das Glück auf ihrer Seite haben, aber die Behuften waren noch lange nicht außer Gefahr. Zum einen könnten die Ratten jeden Moment mit Verstärkungen zurückkehren, um ihnen den Todesstoß zu versetzen und zum anderen waren die beiden Bestienherrscher schwer verwundet. Sie mochten zwar selbst in der Lage gewesen sein, sich in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod zu bewahren und der Großteil ihrer Wunden war auch ausgesprochen effizient – wenngleich unorthodox – versorgt worden, aber die Energiereserven der Beiden waren an ihrem Ende angelangt. Wenn diese Tunnel also nicht zu ihrem Grab werden sollten, dann galt es jetzt den Aufstieg zu wagen, bevor der Rückweg endgültig von den Ratten versiegelt würde.
Nachdem auch die letzten Skaven erschlagen waren, machten sich die Gors in Windeseile abmarschbereit und brachen auf. Sowohl Ghorhok als auch Merrhok waren intuitiv recht schnell in der Lage den richtigen Weg wiederzufinden und geleiteten die Überlebenden durch die Dunkelheit.
Sowohl Graktar als auch Gurlak fühlten sich völlig ausgelaugt und hätten ihrem Bedürfnis, sich fallen zu lassen und einfach zu schlafen, gern nachgegeben. Aber eine solche Geste der Schwäche kam gar nicht in Frage. Weder hätten sie ihren Status vor ihren Untergebenen aufrechterhalten können, noch wollten sie eine solche Torheit mit ihrem Leben bezahlen. Hier unten würde es keine Ruhe und keinen Frieden geben. Beide waren froh, dass die schlechten Lichtverhältnisse ihre Schwäche zum Großteil verbergen mochte. AlleinGraktar wirkte für seinen relativ dunklen Haut-Ton verhältnismäßig bleich und blutete noch immer aus einigen der geplatzten Nähte an seinem Bauch. Erst kurz vor dem Ziel, in einem Teil der Tunnel, welche von einem grünen Licht erhellt wurden, ließen die Schmerzen langsam nach und die Blutung schien zu versiegen. Zuerst war Graktar nicht gerade erfreut über die verbesserten Sichtverhältnisse. Wollte er doch keinesfalls, dass er in seiner derzeitigen Verfassung gesehen würde. Aber als er sich nach den anderen umgeblickt hatte, wurde ihm klar, dass in diesem Licht keiner der Gors allzu gesund aussah.
Auch Gurlak vermied es tunlichst sich an der Tunnelwand anzulehnen oder abzustützen. Streckenweise war er froh, dass sie in permanenter Bewegung waren, da er sonst befürchtete einfach umkippen zu können. Im zügigen Marschtempo konnte er sich hingegen halb nach vorn fallen lassen und musste nur sein Schritttempo unter Kontrolle behalten. Als sie eine kleine Rast in einem stark grünlich erhellten Gewölbeteil machten und Ghorhok meinte, dass es nicht mehr weit bis zum Aufstieg wäre, fürchtete Gurlak für einen Moment, dass ihm die Knie nachgeben würden. Mit offenem Maul und halb in den Nacken gelegtem Haupt blickte er sich in der Runde der Gors um. Keiner von ihnen schien ihm im Moment allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ghorhoks kurze Ansprache hatte ihr Übriges dazu getan. Er lehnte sich also mit der Schulter gegen die Tunnelwand, senkte den Kopf wieder nach vorn und versuchte so viel Kraft aus dieser kleinen Ruhepause zu ziehen wie er nur konnte. Seine Haut begann zu prickeln und der hämmernde Schmerz in Brust und Kopf schienen unter einer Art sonorem Summen – welches sich in seinem Schädel breitmachte – langsam zu verstummen. An Stelle der Schmerzen trat jetzt eine Art Übelkeit. Aber der Magen des Großhäuptlings war leer und so gab es kaum etwas, was er hätte erbrechen können. Der massige Gor konzentrierte seinen Blick auf die Dunkelheit vor sich, im Tunnel. Er versuchte sich eine Horizontlinie vorzustellen, an welche er sich geistig zu verankern suchte. Der Raum drehte sich dennoch langsam und stetig um ihn und so sprach er mit großer Mühe und in tiefem, brummendem Bass-Ton, "Weiter!".