Kapitel 97 - Instinkte
Eben noch hatte Gurlak an seine Späher gedacht, da kamen ihm zwei von ihnen aus dem Dickicht heraus entgegen. Sie waren auf vorgelagertem Posten gewesen und berichteten, dass sich voraus eine Straße der Menschen und zudem eine Siedlung befände. Die Befestigung sei zwar zu gut, um mit ihrer derzeitigen Schlagkraft einen direkten Angriff wagen zu können, aber man könne in einem nächtlichen Überfall auf die äußeren Ausläufer sicher dennoch die schwindenden Vorräte der Herde wieder auffüllen. Gurlak nickte und gab Befehl die Ortschaft sowie die Verkehrswege weiter auszukundschaften, bis er mit seinem Zug heran sei. Dann würde er, auf den Erkenntnissen der Späher basierend, einen Trupp zusammenstellen und der möglichen Durchführung eines Überfalls selbst beiwohnen. Die Ungors nickten und machten sich umgehend wieder auf den Weg voraus nach Norden.
Merrhok sah wie seine Schädelräuber im Unterholz verschwanden und entschloss sich dazu, es ihnen gleichzutun. So lange der Alte noch beschäftigt wäre, wusste er sowieso nicht was er hier tun sollte. Mit anderen zu sprechen, war ihm noch immer nicht möglich. Mehr als ein paar Laute konnte er noch nicht artikulieren. Und so nahm er sich einen der Speere, von der Ladefläche des Wagens welcher Shargahs Habseligkeiten transportierte, sah das Säckchen in seiner Hand noch für einen Moment an und warf es dann zu dem restlichen Plunder auf dem Karren. Er schaute sich noch einmal nach dem Alten um und verschwand dann, seitlich des Pfades, im Dickicht.
Unmittelbar war Merrhok von dichtem Grün umgeben und seine Sinne schärften sich, als er die kühle, frische Waldluft durch seine Nüstern einatmete. Seine Hufe huschten über den feuchten, mit Moosen und Gräsern bedeckten Waldboden und man hätte kaum glauben wollen, dass er vor kurzem noch in einer miserablen körperlichen Verfassung gewesen war. Seine Ohren spitzten sich und seine Nase versuchte jeden nur ansatzweise zu witternden Geruch aufzunehmen und zuzuordnen. Uralte Instinkte waren geweckt worden und für einen Moment vergaß der junge Häuptling, dass er als Späher hier war und nicht nur um zu jagen.
Dann machten seine Ohren vorn links von ihm eine Bewegung aus. Sofort erstarrte er in seiner Bewegung, um genauer hinzuhören und sich selbst nicht zu verraten. Die feuchtigkeitsschwangere Luft trug ihm den markanten Duft eines Waldtieres zu, eines natürlichen Wesens. Merrhok beugte die Knie und versuchte sich lautlos zu nähern, um einen Blick zu riskieren. Nach einigen, wie in Zeitlupe geführten, Schritten sah er ihn durch die Farne und Gräser hindurch. Ein prächtiger Rehbock graste friedlich etwa 70 Fuß vor ihm. Noch hatte das Tier nichts bemerkt und die Jagdinstinkte des Gors gewannen den Kampf in seinem Unterbewusstsein. Die Haare an seinen Ohren sagten ihm, dass der Wind zwar nur schwach aber durchaus zu seinen Gunsten wehte. Er konnte selbst schwache Gerüche und Geräusche an Nasen und Ohren von Jäger und Beute tragen. Heute jedoch, wehte der Wind Merrhok entgegen und somit von der Beute weg.
Er machte einen leichten Bogen um den Bock. So stellte er sicher, nicht aus Versehen in dessen Sichtfeld zu geraten. Dann war er in der idealen Position. Er schloss seine Hand fest um den Schaft des geschulterten Speers, Spitze nach vorn und pirschte sich erneut in aller Ruhe und mit bis aufs Äußerste geschärften Sinnen an das Tier heran. Dann kam er an eine Stelle, welche etwas lichter war und ihm genügend Raum gab, um sich frei zu bewegen. Er nahm Geschwindigkeit auf, holte Schwung und warf. Just in diesem Moment schreckte der Rehbock auf. Sein gesamter Körper stand mit einem Mal unter Spannung und er sackte erschrocken in sich zusammen. Dann gewann der Fluchtreflex die Kontrolle und er wollte davonjagen, doch es war bereits zu spät. Der Speer traf unterhalb seines Schulterblattes und durchbohrte den Bock mit tödlicher Kraft. Die Beine des Tieres gaben nach und er sackte, erst mit den Vorder- dann mit den Hinterläufen, zusammen. Merrhok atmete tief durch und starrte wie gebannt auf das sterbende Tier. Dann kam er zügig näher, sein Messer in der Hand.
Als er über dem dahindämmernden Tier stand, welches noch flach atmete, sah Merrhok, dass der Rehbock von den Dunklen Mächten berührt worden war. Das Tier besaß ein drittes Auge, direkt auf der Stirn und gerade als der Gor sich anschicken wollte dem Tier die Kehle durchzuschneiden, zögerte er. Der Bock sah ihn an. Bis eben hatte er seine Beute nur als seelenloses Futter auf Beinen betrachtet, aber die Berührung durch das Chaos veränderte irgendwie alles. Er konnte sich nicht erklären warum. Es schien, als hätte er etwas entdeckt was sie miteinander verband. Schließlich überwand er diesen Gedanken, atmete tief durch und schnitt dem sterbenden Tier die Kehle durch. Es war unmittelbar vorbei und Merrhok hatte das Gefühl, dass es in diesem Moment das Richtige war. Das Einzige, was er für dem Rehbock hatte tun können. Dann drehte er das Tier zur Seite, öffnete es mit Hilfe seines Dolches unterhalb des Brustbeines und weidete es aus. Er fraß Herz und Leber auf der Stelle. Der Geschmack der Organe und des heißen Blutes jagten ihm Schauer über den Rücken und es war, als ob in ihm uralte Instinkte wachgerufen würden. Er hatte das Gefühl einen Teil der Persönlichkeit des Tieres in sich aufzunehmen, sie zu spüren. Es hatte etwas zutiefst zeremonielles und zudem sehr intimes.
Dann zog Merrhok unter Einsatz großer Kraft den Speer aus der Flanke des Bockes, warf sich das schwere Tier über die Schulter und lief zurück in die Richtung, in der er den Herdenzug mittlerweile vermutete.