Um ein wenig Werbung für dieses tolle System zu machen, stelle ich hier mal eine Kurzgeschichte ein, die ich damals für den Kurzgeschichtenwettbewerb in diesem Forum geschrieben habe. Wenn ich Lust und Zeit finde (und es auf Interesse stößt), setze ich das gerne mit weiteren Geschichten fort.
Ein guter Tag zu sterben
„Schweigt!“ Die tiefe und sonore Frauenstimme hallte von den marmornen Wänden wider und ihr Zorn ließ die Statuen der alten Helden wie strafende Boten der Asrae erscheinen. Die Orakelpriesterin der Alexandra, Herrin des siegreichen Krieges, hatte sich erhoben und mit theatralischer Geste ihren Arm emporgestreckt. Ihre bebenden Finger zeigten auf den jungen Mann am anderen Ende der Tafel. „Agyion, Sohn des Pandeklos, Eure Worte lästern wider die Götter!“
„Ich beleidige die Asrae nicht, wenn ich ausspreche, was jeder hier weiß, Desdemonia!“ Der junge Feldherr spannte sich in seinem Sessel an und haftete seinen wütenden Blick tief in den roten Federbusch seines Helmes, den er unter den Arm geklemmt hatte. Argwöhnisch ruhten die Augen des gesamten Kriegsrates auf ihm.
„Die Götter haben nicht mehr die Macht früherer Tage“, fuhr er fort, „und wie uns die alten Dichter lehren, beschützen sie nur diejenigen, die sich selbst helfen.“ Für einige fein abgestimmte Herzschläge ließ er seine Worte wirken. „Man erzählt sich sogar, die dunklen Herrscher der Mortaner hätten Aesys geknechtet, unseren obersten Gott und Vater.“ Ein aufgebrachtes Murmeln erfüllte den Raum.
„Genug!“ Xephaiston, König und Heerführer von Darica, ein alter Mann, dem ehedem auf dem Schlachtfeld der Ruf in die ewigen Hallen der Götter versagt gewesen war, erhob sich schwerfällig am Kopfende der Tafel.
„Ich respektiere Eure Worte, junger Kriegsheld. Aber Desdemonia hat Recht: Die Götter sind uns wohlgesonnen und werden uns schützen. Darica ist stark.“
Aufgebracht knallte Agyion den Helm auf den Tisch.
„Ich beschwöre Euch, denkt daran, was in Cephalos passierte! Ich war noch ein Kind, als die Stadt geschleift wurde, aber ich habe die Schrecken nicht vergessen. Es hätte damals verhindert werden können, wenn wir weniger auf die Götter als auf unseren eigenen Mut und unsere Einigkeit vertraut hätten. Wenn wir die mortanischen Legionen ebenso unterschätzen, werden sie uns überrennen.“
„Ihr sprecht mit dem hitzigen Gemüt eines jungen Kriegers, Agyion. Das gefällt mir. Und wir wissen auch vom tragischen Schicksal Eurer Familie. Aber Darica...“, der König ließ sich zurück auf den Stuhl sinken, „...ist nicht Cephalos. Mein Ratschluss steht: Ihr werdet die Mortaner mit zwei Hundertschaften abfangen. Man sagt, Ihr wärt ein fähiger General. Nun könnt ihr es beweisen.“
Der Kopf des jungen Heroen war ihm auf die Brust gesunken. Angestrengt und um Fassung bemüht presste er die Lippen aufeinander und starrte auf das weiße Marmor des Tisches.
„Dann habt ihr das Todesurteil über mich und meine Mannen gesprochen.“ Seine Stimme versagte und leise fügte er hinzu: „Und über unser Königreich.“
Er erhob sich und ergriff den Helm. Die Blicke der noblen Herrschaften lasteten auf seinen Schultern und ließen jeden Schritt schwer werden wie eine schlecht gefertigte Rüstung.
„Wenn dies Euer Wille ist, Männer und Frauen Daricas, so werde ich gehorchen. Doch ich warne Euch: Verlasst Euch nicht auf unseren Sieg!“
Beinahe hatte er das Portal erreicht, das ihm von zwei Kriegern der Heiligen Schar geöffnet wurde, als er sich ein letztes Mal umdrehte: „Eines noch: Ich benötige diplomatischen Kontakt zu den Himmelsreitern von Ephemera. Ich werde ihre Hilfe brauchen...“
Stille lag über über den finstren Wäldern in den Tälern und den schroffen Berghängen. Nur das gleichmäßige Marschieren einer Unzahl beschlagener Stiefel erklang im morgendlichen Nebel. Die Taufrische verwandelte die kalte Luft in ein eisiges Meer, dessen Fluten bis tief unter die Rüstungen drangen. Titus war in den Gleichschritt des Heeres verfallen. Seine Gedanken waren wie betäubt vom steten Auf und Nieder und vom rhythmischen Trommelschlag des Marsches. Die meiste Zeit über ruhten seine Augen teilnahmslos auf dem Rücken seines Vordermannes.
„Was sie wohl verbrochen haben?“ Die Stimme neben ihm weckte Titus aus seinem Trott. Es war ein junger, rothaariger Legionär; kaum achtzehn Winter mochte er zählen. Seine Haut war wettergegerbt und gebräunt, was ihn als Rusticus, als Landbewohner verriet.
Titus blickte ihn fragend an.
„Die Toten meine ich.“, ergänzte der Junge. „Was haben sie wohl in ihrem früheren Leben verbrochen, dass sie nach ihrem Tod erneut für das Imperium in die Schlacht ziehen müssen?“
Titus' Blick fiel auf das Gerippe in der Uniform der mortanischen Legionen, das unweit von ihnen die Flanke sicherte. Sein Totenschädel wirkte ausdruckslos und doch auf eine beunruhigende Weise höhnisch – vielleicht weil sein Gebiss wie ein verzerrtes Lächeln aussah. Der Untote bewegte sich langsam und schwerfällig und doch hielt er mühelos Schritt. Eine Getriebenheit, eine langsame Getriebenheit erfüllte ihn. Das ergab keinen Sinn, doch Titus konnte sich des Gedankens nicht erwehren. Die Zeit schien im Tode nicht mehr die selbe zu sein.
Mit ebenjener Trägheit wandte der untote Legionär ihm den Kopf zu. Ihre Blicke – sofern man die Leere in den Augenhöhlen seines Gegenübers als Blick bezeichnen konnte – trafen sich. Augenblicke vergingen und Titus konnte sich nicht abwenden.
„Dies ist die siebte Legion Viscera. Sie wurde bestraft für ihr Versagen in den nördlichen Grenzländern. Ihr Rückzug wurde mit dem Tode und dem ewigen Dienst am Imperium gesühnt.“
Unwillkürlich glitt seine Hand an seine Brust, an jenen Ort der Rüstung unter der sein Seelenstein ruhte.
„Glaubt Ihr wirklich, dass er Euch schützt?“ Der junge Legionär nickte in Richtung ebenjener Stelle. „Was hilft es Euch, nicht in den Hadon einzugehen, nicht von den Göttern in der Ewigkeit geknechtet zu werden, wenn Ihr stattdessen in dieser Welt Sklave sein müsst?“
Warnend blickte Titus sein Gegenüber an. Sein Flüstern war fest und schneidend: „Bist du wahnsinnig, Junge! Sprich solche Worte niemals aus – erst recht nicht in meiner Gegenwart.“ Er blickte sich misstrauisch um.
„Der Seelenstein schützt meine Freiheit. Wenn ich einmal in Ehre sterben werde, werden die anmaßenden Götter der Barbaren meiner Seele nicht habhaft. Meine Familie wird meinen Geist ehren und er wird frei sein.“ Beinahe väterlich besah er sich den jungen Mann. „Wie ist dein Name, Junge? Und wie alt bist du?“
„Claudius, Herr! Claudius Lucius Severus! Und ich werde morgen meinen achtzehnten Geburtstag begehen.“
„Ich bin Titus Aurelian Marcus Sedulus. Ein Jahr noch, dann habe ich meine zwanzigjährige Dienstzeit beendet. Also Claudius, lass dir von einem alten Legionär zwei gute Ratschläge geben: Erstens, sprich niemals schlecht über das Imperium, denn du weißt nie, wer mithört! Und zweitens, lass dich nicht von den Göttern verführen! Wir bringen den Völkern dieser Welt Weisheit, Mündigkeit und Freiheit. Die Asrae sind schwächliche Wesen, Claudius, die unrechtmäßig die Herrschaft über unsere Seelen begehren. Aber wir brennen die Sklavenmoral aus den Völkern Ghorns wie den Brand aus einer Wunde.“
Sein Blick hatte sich unwillkürlich wieder in jene rhythmische Trance des Marsches begeben. Glaubte er sich diese Worte denn selbst? Gewiss, er wusste, dass der Glaube an die Asrae, dass ihre Verehrung der Freiheit Feind war. Doch er hatte zu viele Kriege gefochten, zu viele Menschen sterben sehen, zu viel Leid in den befreiten Regionen, um die Mission der Legionen im Herzen zu tragen. Aber er wusste auch, dass jedes andere Wort ein unrühmliches Ende bedeuten konnte. Und ganz gewiss würde der junge Claudius in der Legion glücklicher werden, wenn er wenigstens einige Jahre glauben konnte, seinen Feinden die Freiheit und nicht bloß Tod und Unterdrückung zu bringen.
Die mortanischen Legionen hatten die Schlucht von Tygamon bald vollzählig betreten. Wie ein nicht enden wollender Wurm schlängelten sie sich durch den engen Passweg. Agyion besah sich die Eindringlinge hoch aus den Wolken und ein bitterer Geschmack erfüllte seinen Mund. Sie wähnten sich in Sicherheit, weil ihre Späher im Gebirge nichts Auffälliges angetroffen hatten. Und sie waren verwundbar dort unten. Doch es waren viel mehr als erwartet und seine Truppen waren nicht zahlreich genug. Dennoch musste es hier getan werden – hier und jetzt. Es gab kein Zurück.
Er gab ein kurzes Signal an den Anführer der ephemerischen Truppen. Ohne ein Geräusch gab dieser Befehl und die Pegasi und Blauen Albatrosse senkten sich aus den lichten Wolken nieder. Sie landeten auf dem Bergkamm über der Schlucht und Agyion und seine Krieger saßen ab. Nur ein kurzes Wort des Dankes konnte er an die Ephemerer wenden, da stiegen sie bereits wieder in die Lüfte auf. Niemand wollte heute an diesem Ort verweilen.
„Alles gefechtsbereit machen!“ Agyions Worte waren kaum mehr als geflüstert, doch seine Mannen folgten in bedingungsloser Disziplin. Die vorbereiteten Felsbrocken wurden binnen weniger Augenblicke präpariert, die Bögen und Pfeile bereit gemacht.
Dann knieten die fünfzig Krieger wie auf einen stummen Befehl hin nieder und falteten die Hände zum Gebet. Kein Wort wurde gesprochen, doch jeder wusste, dass ihre Gebete sie vereinten: Ihr Wunsch, diesen Tag zu überleben und Darica Ehre zu bereiten. Die Gedanken an die Familie, die sie zurückgelassen hatten. Und die Bitte, die heiligen Hallen der Asrae mit Stolz betreten zu dürfen. Für einen Augenblick schloss Agyion die Augen und ließ sein Gebet in sich verhallen. Ein Augenblick so erhebend und emotional wie die Lieder der alten Dichter. Dann erhob er sich – und mit ihm neunundvierzig bronzen gerüstete Krieger aus Darica und Damesia. Er griff zu seinem Bogen, legte einen Pfeil auf und gab dem Trommler das Signal.
Sie waren früh aufgebrochen an diesem Tag und der Gleichschritt der marschierenden Legionen hatte Titus bereits seit Stunden mit jener gefühllosen Trance erfüllt. Heiß brannte die Sonne durch einen leichten Wolkenschleier auf den schroffen Fels nieder. Der junge Claudius, dem er heute zu seinem achtzehnten Geburtstag einen Teil seines wertvollen Vorrats gebrannten Weines geschenkt hatte, lief wieder neben ihm. Er schwieg.
Zuerst bemerkten sie es kaum. Es war wie ein fehlerhafter Schritt im Rhythmus der Legionen. Dann lichtete sich die Trance und der fremde Klang dröhnte ahnungsvoll in den Köpfen. Er hallte von den steilen Berghängen wider. Trommelschlag! Entgeistert riss Titus den Blick in die Höhe. Auf dem Bergkamm zur Rechten reflektierten Rüstungen das Sonnenlicht. Dann schlugen die ersten Pfeile ein. Ein Legionär unmittelbar vor ihnen brach blutend zusammen. Panik kam auf.
„Bleib an meiner Seite, Junge!“ Titus kniete nieder und löste seinen Schild vom Rucksack.
Befehle wurden gebrüllt und das Heer nur mühsam in Formation gebracht. Allein die Legion der Toten hatte bereits binnen weniger Herzschläge die Flanke gesichert. Ein Wall untoter Legionäre schützte die Flanke und hatte seine Schilde erhoben.
Eine zweite Pfeilsalve hagelte auf das Heer nieder.
Es waren nur wenige Dutzend Pfeile. Eine Falle vielleicht? Titus Gedanken rasten.
„Legio Concordiae, Centuriae Septem bis Duodecem in geschlossener Formation hangaufwärts vorrücken!“ Einheiten setzen sich in Bewegung. Diesen Hang zu erklimmen, würde unzählige Opfer fordern.
„Centuriae tres bis quinque vorrücken im Tal! Die Übrigen nachrücken in Schildkrötenformation!“
Titus und Claudius hoben ihre Schilde über die Köpfe und reihten sich ein. Aus den Augenwinkeln konnte sie die gewaltigen Felsbrocken sehen, die den Hang herunter rasten. Die vorrückenden Legionäre wurden zerquetscht und stieben mit den Felsbrocken in die Formation im Tal.
Agyion war zufrieden. Seine List war erfolgreich. Er blickte in Richtung des Endes der Schlucht. Schemenhaft konnte er erkennen, dass die Phalanx in Position war und den Ausbruch der Mortaner verhinderte.
„Signal an die Hügeloger!“, rief er dem Trommler zu. Dieser änderte den Rhythmus und sogleich erschienen auf der gegenüberliegenden Hügelkuppe die grobschlächtigen Barbaren aus den Bergen. Geschleuderte Felsen trafen die um Formation ringenden Mortaner.
Agyion gab Befehl für eine weitere Pfeilsalve.
Die Mortaner waren zu zahlreich, um sie zu besiegen. Aber der heutige Tag sollte den Asrae zum Ruhm gereichen. Viele der blasphemischen Heiden würde heute ihren Tod finden. Und wenn die Könige von Darica keine Narren waren, würden sie das mortanische Schrumpfheer zermalmen, wenn es weiter nach Osten vordringen sollte. Mit einer solchen Schlacht konnte er vor die Götter treten – seiner Vorfahren würdig.
Titus und Claudius rückten mit ihrer Einheit gegen die Phalanx vor, die den Ausgang der Schlucht versperrte. In seinen Gedanken berührte Titus noch einmal den Seelenstein an seiner Brust. Niemals würde er ein Sklave der Götter werden. Frei auch im Tode! Neunzehn Jahre lang hatte er in der Legion gedient. Er dachte an seine Frau, mit der er im kommenden Jahr den Ruhestand genießen hätte können. Dann fiel vor ihm ein Legionär. Es war an ihm nachzurücken.
Es war ein heißer Tag, dieser dreiundvierzigste Tag des Ashkar im Jahre 2953 nach dem Zweiten Pakt. Es war ein blutiger Tag. Es war der achtzehnte Geburtstag des Claudius Lucius Severus. Es war ein guter Tag zu sterben.