Guy hatte von der Herrin des Sees geträumt. Sie war ihm am Rande eines nebelverhangenen Gewässers erschienen und hatte von Treue, Blut, Ehre und Sühne gesprochen. Manch anderer hätte ihre Worte wohl als unzusammenhängend und wirr empfunden, aber für den jungen Knappen waren sie wie ein Balsam. Wenngleich auch er nicht gleich zu deuten verstand, was sie ihm hatte sagen wollen, so gab ihm die Tatsache, dass seine Patronin überhaupt zu ihm sprach, einen gewissen Halt. Er empfand plötzlich Hoffnung, wo sonst wohl nur Angst vor dem Unbekannten, dem Wandel und den Dingen die da kommen mochten auf ihn gelauert hätten. Seine fast schon grenzenlose Hingabe war eine der letzten Dinge, die ihm noch geblieben waren und letzte Nacht wäre er um ein Haar für sie gestorben.
Als er sich zu regen begann, durchfuhr ein höllischer Schmerz seinen Körper und erinnerte ihn unsanft daran wie knapp er doch dem Tode von der Schippe gesprungen war. Louis' Speer hatte ihn in die Flanke unterhalb des rechten Armes gebissen. Der Stoß war mit einer derartigen Kraft geführt worden, dass die Spitze der Waffe einige der Ringglieder in Guys Kettenhemd gesprengt hatte. Auch die darunter befindlichen Stofflagen hatten den Speer nicht aufhalten können und so hatte sich der kalte Stahl in Haut und Fleisch des Siebzehnjährigen hineingebohrt. Sein Freund Gustav sowie ein paar der anderen Knechte waren daraufhin dazwischen gegangen und hatten Schlimmeres verhindert, aber die darauffolgende Nacht sollte dennoch zu einem Martyrium für Guy werden. Fast schon wider Erwarten hatte er bis zum Morgen überlebt und der nicht unbeträchtliche Blutverlust ließ ihm die raue Herbstluft nun gleich noch ein ganzes Stück kälter erscheinen. Guy spannte den Kiefer an um das Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. Während er langsam aus dem Reich der Träume zurückkehrte, dachte er an Louis und wie die pure Missgunst diesen Sohn eines Schmiedes und einer Magd zu jener so unnötigen und brutalen Tat hatte treiben können. Innerlich verfluchte er ihn aber noch viel mehr für seine Ehrlosigkeit und Untreue ihrem gemeinsamen Herrn gegenüber. Wäre ihm das Wort Opportunist nicht fremd gewesen, hätte er es diesem Verräter wohl letzte Nacht ins Gesicht gespuckt.
Alles hatte vor einigen Tagen begonnen, als ihr Herr Antoine zusammen mit Louis, Guy und einer kleinen Gruppe Getreuer bei einem Turnier des Herzogs von Parravon hatte verweilen dürfen. Als dem Ersten unter Antoines Knappen war Guy die Ehre zuteilgeworden, seinem Herrn bei den Ritterspielen beizustehen, ihm beim Umkleiden und Anlegen der Rüstung behilflich zu sein, im Verlauf der Duelle die Waffen sowie den Schild zu reichen und während alledem mit stolz geschwellter Brust die Farben seines Herrn tragen zu dürfen. Wie eine angebetete Reliquie hatte er bei der Parade und zwischen den Turnierkämpfen das gelb-schwarze Banner präsentieren dürfen und den fein säuberlich vernähten Stoff dabei beobachtet, wie er im Winde hin und her gepeitscht worden war. Louis jedoch, hatte ihm diese Ehre ganz und gar nicht gönnen wollen und so sollte der Neid das Gesicht des breitschultrigen und mehr als nur einfach gestrickten Gemeinen im Verlaufe der Reise und der Festspiele des Öfteren bedenklich Grün färben. Seine stetig wachsende Abneigung gegenüber Guy war am Ende sogar derart weit gediehen, dass er nicht nur ihn verabscheute, sondern sogar seinen Herrn dafür zu hassen begonnen hatte, dass er einen anderen Knappen ihm selbst vorzuziehen wagte. Als am dritten Tage der Spiele dann das große Unglück geschehen sollte, musste dies die so entstandene Kluft endgültig zu einem gähnenden Abgrund aufreißen und zur offenen Konfrontation führen.
Im Schleier der morgentlichen Müdigkeit, geplagt und betäubt von Schmerzen und Fieber, kamen Guy nun nur noch Fetzen des eigentlichen Geschehens in Erinnerung. Es musste wohl der zweite Anlauf beim Tjosten gewesen sein. Die erste Lanze hatte seinen Herrn beinahe aus dem Sattel gehoben und war nur durch Glück noch an seinem Schild abgeglitten. In seiner Konzentration beeinträchtigt, hatte Antoine beim nächsten Durchgang wohl gänzlich den Faden verloren und damit den Anfang vom Ende für sie alle eingeleitet. Guy graute es wenn er nur daran dachte. Das Bild des am Boden liegenden, sterbenden jungen Ritters, in seinen grün-gelben Farben, würde er wohl seinen Lebtag nicht mehr vergessen. Langsam, viel zu langsam und ohne dass ihm jemand hätte helfen können, war er schließlich an seinem eigenen Blut erstickt. Antoine war selbstverständlich außer sich gewesen und kein noch so wohlgemeintes Wort hatte ihn von diesem Unglück ablenken oder seine Nerven beruhigen können. Als wäre seine aufbrausende Reaktion selbst der Zündstoff dafür gewesen, hörte man die Leute eines jeden Standes bald hier und da abfällig oder auch in Furcht von "Antoine le Rouge" reden. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von der Bluttat und der damit verbundene Name ausgebreitet. Den sonst so ehrfürchtigen und auf Tugendhaftigkeit besonnenen Ritter sollte dies verständlicherweise im Nu an den Rand der Verzweiflung treiben. Noch bevor der Abend an jenem verfluchten Tage gegraut hatte, war Antoine verschwunden und abermals sollte das Publikum sich allerorts darüber das Maul zerreißen.
Während Guy und zwei weitere Knappen verunsichert auf die Rückkehr ihres Herrn warten wollten, hatte Louis noch in derselben Nacht zum Aufbruch in die Heimat gedrängt. Fast schon als empfände er Schadenfreude oder Genugtuung über das Unglück, welches ihrem Herrn widerfahren war, hatte er davon gesprochen, dass der König selbst Antoine ganz ohne Frage das Lehen aberkennen würde, um einen neuen Ritter an seiner Stelle einzusetzen. Guy war nicht sicher gewesen was seinen Kameraden dazu veranlasst hatte solche Reden zu schwingen, aber schließlich war er froh gewesen als Louis aufbrach und seine vergiftenden Gedanken mit sich hinfort genommen hatte. Mit ihm waren beinahe alle Männer gegangen, die in Antoines Gefolge zum Turnier erschienen waren. Nur Gustav, der Müllers-Sohn, und Yannick, der jüngste Spross des örtlichen Schneiders, waren entschlossen gewesen mit Guy zurückzubleiben, um der Rückkehr ihres Schutzherrn zu harren.
Nach drei Tagen war der Druck von außen schließlich so groß geworden, dass auch die drei jungen Männer jede Hoffnung auf eine Rückkehr Antoines hatten fahren lassen. Gerüchte waren umgegangen, er habe sich umgehend auf die Suche nach dem Gral der Herrin des Sees begeben, um seine Schuld zu sühnen und sich reinzuwaschen von Blut des gelb-grünen Ritters. Andere hatten gemeint, dass bereits Boten auf dem Weg zum Königshof in Couronne wären, um eine Neuvergabe des Lehens zu erwirken und Antoine unwiderruflich ächten zu lassen. Schließlich waren auch die Feindseligkeiten den Dreien gegenüber so groß geworden, dass sie beschlossen hatten den Heimweg anzutreten. Guy sollte alsbald eine ganz eigene Motivation dafür finden. Denn als ihm zu dämmern begonnen hatte, welche Konsequenzen die Neuvergabe des Lehens für den verbleibenden Hofstaat und vor Allem für Antoines Ehegattin haben könnte, waren es nicht nur Ehr- und Pflichtgefühl gewesen, welche ihn antrieben seine Habseligkeiten zu packen und so schnell wie nur möglich gen Heimat aufzubrechen. Sein Herz brannte schon damals wie auch jetzt lichterloh, wenn er auch nur an die wunderschöne Madame Lucia dachte.
Unter Schmerzen drehte Guy sich gekrümmt vom Rücken auf die verwundete Seite, um einen Moment zu verharren und klare Gedanken zu fassen. Unweigerlich dachte er an Louis, welcher bereits bei seiner Rückkehr die Neuvergabe des Lehens proklamierte, die wenigen verbliebenen Treuen, welche sich um Madame Lucia versammelt hatten, in eine Art Geiselhaft genommen und ins Herrenhaus gesperrt hatte. Als Yannick, Gustav und Guy schließlich wenige Tage später ebenfalls an den Hof zurückgekehrt waren, standen ihnen Knechte in gelb-schwarzen Überwürfen gegenüber, als wären sie ihre geschworenen Feinde. Dass die drei jungen Männer ebenfalls jene Farben trugen, schien diesen undankbaren Taugenichtsen ganz egal gewesen zu sein und so war Louis an die Spitze der Aufrührer getreten, um Guy zum Kampf zu fordern. Perplex und noch völlig erschöpft von den Anstrengungen der Reise war Guy gar nicht in der Lage gewesen einschätzen zu können, warum ihr einstiger Kamerad sie nun wie Vogelfreie behandelte. Nachdem er nun eine Nacht unter permanenten Schmerzen verbracht hatte und ihm ein wirklich erholsamer Schlaf verwehrt geblieben war, wusste er jedoch nur zu gut, dass Louis reinen Tisch zu machen gedachte. Für Guy, als seinen auserkorenen Rivalen, gab es in der sich neu bildenden Ordnung am Hofe keinen Platz mehr. Louis hatte seine Chance erkannt und wollte nichts dem Schicksal überlassen. Wenn er erneut Gelegenheit dazu bekäme, würde er den jungen Knappen nicht noch einmal mit dem Leben davonkommen lassen.
Guy starrte angestrengt auf das leinene Kopfkissen, direkt vor seiner Nase. Er konnte sich erinnern, dass Yannick ihn letzte Nacht so gut es ging zusammengeflickt hatte, aber die Stoffverbände um seinen Brustkorb waren komplett durchnässt von Schweiß und Blut. Als er an sich herabsah fiel ihm auf, dass er das Bannertuch seines Herrn noch immer bei sich hatte. Zu allem Überfluss hatte er in seinem jämmerlichen Zustand auch noch darauf geschlafen und sogleich überkam ihn ein furchtbar schlechtes Gewissen. Dass sein Herr ihm einst die Farben seines Hauses in Form des Banners anvertraut hatte, bedeutete Guy unermesslich viel. Sie zu tragen und zu bewahren, war zu einer Art heiligem Sakrament geworden und darüber stand für ihn nur die Herrin des Sees selbst. Die Farben derart zu behandeln und gar noch zu besudeln war für den streng gläubigen jungen Mann ein unerträglicher Gräuel. Schmerz und Übelkeit brachen zugleich über ihn herein. Mit einem Mal drehte sich alles in seinem Kopf und um ihn herum. Guy musste unweigerlich an den tileanischen Wein denken, den er vergangenen Sommer in einem Anflug von Lausbuben-Ideen zusammen mit Yannick aus den Keller des Herrenhauses hatte mitgehen lassen. Er hatte sich schuldig gefühlt wie die Sünde und als Yannick ihm überraschenderweise offenbarte, dass er keinen Wein trinken wolle, war Guy sogar in der Versuchung gewesen den Krug wieder zurückzubringen. Schlussendlich hatte er sich aber doch dazu überreden lassen wenigstens einen Schluck zu kosten und als der süße Geschmack ihn an die Lippen einer verbotenen Liebe hatten denken lassen, war es um ihn geschehen. Im Nu war der Krug leer gewesen und Guy fühlte sich wie auf Wolken gebettet. Das Ergebnis war der jetzigen Orientierungslosigkeit durchaus sehr nahe gekommen.
Guy verkniff die Augen und versuchte sich zusammenzureißen. Der Gedanke an das Blut erinnerte ihn an seinen Traum und ließ die Worte der Herrin des Sees mit einem Mal gar nicht mehr so zusammenhanglos erscheinen. Er versuchte sich zu erinnern was genau sie zu ihm gesagt hatte. Es war die Rede von Schuld gewesen, von Sühne, von Treue und von Blut. "Blut… ", kam es dem jungen Knappen über die Lippen, während sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Erneut ergriff ihn Scham, als er die Augen öffnete und sich gewahr wurde wie sehr er das Banner seines Herrn – dieses Unterpfand seiner Ehrerbietung und Treue gegenüber dem Beschützer und Bewahrer seines Lebens, seiner Familie und der gesamten Dorfgemeinde – in Mitleidenschaft gezogen hatte. Es war über und über besudelt. Die gesamte linke Seite des Tuches, welche unter normalen Umständen in einem sonnigen Gelb hätte erstrahlen sollen, war nun tiefrot und nass. Auf einmal hielt Guy wie vom Blitz getroffen den Atem an und seine Augen weiteten sich. Dann flüsterte er leise, "Rot...". Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen, dann folgte eine der Schweißperlen auf seiner Stirn dem Ruf der Schwerkraft und fiel schwer auf das Kissen hinab. Er erkannte nun wie die Farben das Schicksal seines Herrn wiederspiegelten. Strahlendes Gold – eine Farbe welche von glanzvollen Taten, Ruhm und Ehre kündete – hatte dem Rot einer Bluttat weichen müssen. Antoines Farben würden nie mehr dieselben sein, nie wieder sollten sie im alten Glanz erstrahlen. Die Herrin hatte andere Pläne mit ihm und sollte sie beide nun erneut in ihrem Schicksal miteinander verbinden. Früher als Schutzherr und Leibeigener, jetzt als willentliche Werkzeuge und treue Diener ihrer gemeinsamen Schutzpatronin. Leise hauchte er, "Le Rouge". Dann sank Guy erschöpft zurück auf sein Bett. Er wusste nun, was er zu tun hatte. Der Schmerz ließ langsam nach und der junge Mann tat einen wortlosen Schwur, im Namen der Herrin. Dann schenkte sie ihm endlich ein wenig von der langersehnten Ruhe und er fiel in wohlverdienten Schlaf.