Mir ging heute Abend mehr als nur eine Frage durch den Kopf und ich möchte meine Gedanken diesbezüglich gern mit dem geneigten Leser teilen.
Die grundlegende Frage lautet:
Hätte die Warhammer Welt - so wie wir sie für beinahe 30 Jahre kennenlernen und entdecken durften - auch ohne die Katastrophe von Tschernobyl je so ausgesehen wie wir sie in Erinnerung haben?
Nun kann ich verstehen wenn ihr mir hier erstmal nicht folgen könnt, aber eventuell helfen ja folgende Ausführungen
Die These:
Die Warhammer Welt als Katharsis
Immer wieder wird die Menschheit vor Herausforderungen gestellt, welchen sie sich stellen muss. Einige Ereignisse machen es uns leicht sie zu überwinden und als Teil unserer persönlichen oder auch gemeinsamen Geschichte hinter uns zu lassen. Aber es gibt auch jene Ereignisse, welche die Furcht Gottes in uns heraufbeschwören. Sie scheinen so grauenvoll und unüberwindlich, dass wir uns der Katharsis bedienen müssen, um unseren Geist wieder von der Todesangst zu befreien, welche den Menschen im Angesicht eines Verlustes der Kontrolle und Macht immer wieder fest in ihrem Griff hält.
Das Jahr 1954 gilt als Geburtsstunde des Königs aller Monster, Godzilla. Sein Erscheinen und Wüten unter den Menschen sind Ausdruck einer solchen Katharsis. Seinen Ursprung müssen wir in der Historie des japanischen Volkes suchen, welches - ebenso wie Godzilla selbst - unfreiwillig in unmittelbaren Kontakt mit einer der furchteinflößendsten Gewalten unserer Geschichte kam, der nuklearen Bedrohung. Das Grauen begann mit den Folgen und Spätfolgen der Bombenabwürfe über Nagasaki und Hiroshima. 1954 wurde die furchtbare Erinnerung erneut aufs Schmerzhafteste ins Gedächtnis gerufen, als ein japanisches Fischerboot unfreiwillig den Folgen eines amerikanischen Atomwaffentest auf dem Bikini-Atoll zum Opfer fiel. Die Bombe war potenter als erwartet, die Wetterlage hätte ungünstiger nicht sein können und so wurde das Boot mitsamt seiner Besatzung einen Tag nach dem Test schwer verstrahlt. Der Funker des Bootes verstarb noch im selben Jahr, andere Besatzungsmitglieder erkrankten an Leberkrebs. Die jahrelangen Versöhnungsanstrengungen der ehemaligen Weltkriegskontrahenten schienen mit einem Schlag beinahe zunichte gemacht. Noch im gleichen Jahr erschien der erste Film über das Monster, welches Japan bei der Bewältigung seiner ungeheuren seelischen Belastung helfen und zu seinem jahrzehntelangen Begleiter im Prozess der Verarbeitung werden sollte.
Für die westliche Welt waren all jene Ereignisse unwirkliche Berichte aus einer weit entfernten Welt. Etwas womit man sich allerhöchstens für ein paar Minuten mit leichtem Schaudern beim Lesen der Zeitungen oder am Bildschirm im heimischen Wohnzimmer beschäftigte, um unmittelbar danach wieder zum Alltag überzugehen. Aber das sollte sich gut 30 Jahre später schlagartig ändern, als ein Unglück im Kernkraftwerk Tschernobyl, bei Prypjat, das Grauen auch im Westen zu brutaler Realität werden ließ. Die nukleare Bedrohung war keine Frage der Diplomatie zwischen zwei miteinander ringenden Weltmächten mehr, sie war auch nicht langer nur eine Nachrichten-Randnotiz aus dem Fernen Osten, sie war real und sie war hier, mitten in Europa. Der radioaktive Fallout regnete zunächst über der Ostsee und dem schwedischen Festland ab. Gebannt saßen Millionen von Familien vor Radios und Fernsehgeräten, um im Wetterbericht zu erfahren ob der Wind das Verderben auch zu ihnen nach Hause tragen würde. Europa hielt den Atem an, um nicht aus Versehen zu viel verstrahlten Staub einzuatmen.
Etwa ein Jahr später kam ein 280 Seiten starkes Spiele-Regelbuch zu einem Genre heraus, welches sich bereits seit längerem größter Beliebtheit erfreute; dem Fantasy Genre und dem Spiel, Warhammer Fantasy Battle. Bereits in den ersten Zeilen der Einleitung wird die Beliebtheit des Genres gepriesen und wie die Welten, in denen die Abenteuer der Helden und Spieler stattfinden, doch so verschieden von der Unseren seien. Aber schon auf Seite 189 bricht man mit diesem Konzept wieder, indem man die Welt des Spiels wie folgt umschreibt, "This is the Old World, an area very much like late medieval Europe" und schon sind wir gar nicht mehr so weit von dem entfernt was wir kennen, lieben und auch fürchten.
Als Priestley, Halliwell und Ansell zum ersten Mal den Hintergrund der Welt in einer derart ausdefinierten Form niederzuschreiben begannen, wie wir sie in jenem Buch heute noch nachlesen können, war das Drama von Tschernobyl allgegenwärtig und ließ sicher auch die Inselbewohner im Mutterland des Vereinigten Königreichs nicht kalt. Jedermann schlug sich mit den ganz persönlichen Sorgen um die Gegenwart und Zukunft der Menschheit herum und so beginnt die Beschreibung der Warhammer Welt auch nicht überraschend mit einem Kosmischen Hintergrund und einer alles verändernden Katastrophe, welche über die bekannte Welt herinbricht, um sie auf immer zu verändern. Die Nähe zur tatsächlichen Welt des Lesers wird umso deutlicher, wenn er lesen muss, dass die hochentwickelte Rasse der Slann unzählige Welten kolonisierte und diese durch Terraforming auf eine immer wiederkehrende Weise veränderte. Fast schon scheinen die Grenzen zwischen Fantasie und Realität in Frage gestellt, wenn es heißt, "The Slann evolved a standard form of global hydro-static control by means of continental alignment. As a result of their efforts, many of their worlds share a basically similar overall geography, a fact which continues to disturb intelligent space-faring races to this day.". Und an dieser Stelle beginnen die Allegorien erst.
Der Bezug zur Welt von Heute ist permanent im Hintergrund eingewoben und scheint die Wege der Menschheit selbst im Rahmen des Spiels in Frage stellen zu wollen. Denn so hoch die sogenannten Slann auch entwickelt sein mögen, sie werden Opfer der Mächte welche sie selbst über sich gebracht haben. So heißt es da, "This catastrophe resulted from a problem long-appreciated by the Slann [...]". Ebenso wie die Slann, wissen auch wir Menschen um die Kräfte welche wir uns zunutze zu machen versuchen und ignorieren dabei geflissentlich, dass wir zu keiner Zeit die Kontrolle besitzen. Nicht ohne Grund wurde Robert Oppenheimer im Angesicht der entfesselten Nukleargewalt dazu verleitet sich dem Pathos hinzugeben und spontan aus der Bhagavad Gita zu zitieren. ("If the radiance of a thousand suns were to burst at once into the sky, that would be like the splendor of the mighty one..." und "I am become Death, the destroyer of worlds.") Wenn selbst für Gelehrte wie ihn das unmittelbare Erleben jener Gewalten zu Unglauben und Verwunderung führen, so kann man von normalsterblichen Menschen kaum mehr erwarten, dass sie an weniger als die Bezeugung etwas Unfassbaren glauben wollen. Im Fantasy Genre, wie auch im Mittelalter, werden sowohl solche Gegebenheiten als auch deren Kontrolle oft als Magie abgetan. Bei Warhammer heißt es zu diesem Thema, "The Slann learned how to bind these entities using magic, magic being itself the manipulation of unseen energies inherent in Chaos.". Wer hier die Parallelen zwischen der realen Post-Tschernobyl Welt und dem Schicksal der Alten Welt noch für möglicherweise zufällig hält, wird spätestens im Kapitel "Fall of the Slann" (Seite 190) innehalten. Dort heißt es, "The mechanisms controlling the warp-gates failed, the polar gates collapsed and the world was cut off from the rest of the galaxy. This event was to have far-reaching effects upon all life on the planet, effects comparable to a full scale nuclear war.". Weiter heißt es, "A second effect of the colapse was the materialisation of Chaos-matter into solid particals. [...] Dust, stone and whole islands of solidified warp-material were hurled into the upper atmosphere where the lighter particles were caught by the winds and distributed throughout the globe. This material was warpstone and warpstone-dust. Where the black warpstone dust settled, animals and plants began to succumb to strange effects. Creatures mutated into new and horrible forms, animals began to acquire higher levels of intelligence, and intelligent creatures developed bestial traits. Everywhere the story was the same, an insane jumbling of life forms, mutation and insanity.".
An dieser Stelle also noch einmal die Frage:
Wäre Warhammer ohne Tschernobyl dasselbe gewesen?
Als Anschlussfrage sei folgendes in den virtuellen Raum gestellt:
Hat die Konklusion der End Times einen (exakt) 29 Jahre währenden Zyklus (Frühling '86 bis Frühling 2015) der Katharsis geschlossen?
Oder in anderen Worten:
Hat die westliche Welt den Schrecken Tschernobyls überwunden?